Christoph von Marschall, Redakteur, „diplomatischer Korrespondent der Chefredaktion“ (des Tagesspiegels), schrieb heute einen Kommentar im Tagesspiegel:
„Friedensnobelpreis für Greta Thunberg? Nein, denn sie infantilisiert das Verständnis von Politik. […] Die Greta-Bewegung steht für eine Infantilisierung des Verständnisses, was Politik leisten soll – und leisten kann. Sie verbreitet Unwahrheiten. Sie nimmt für sich eine angeblich gesicherte wissenschaftliche Wahrheit in Anspruch, die bei näherem Hinsehen darin besteht, abweichende wissenschaftliche Meinungen zu Häresie zu erklären. […] Greta und ihre Fans behaupten, die Politik habe die Erde untätig in eine Klimakatastrophe gleiten lassen. Der Klimanotstand ist weder eingetreten noch steht er kurz bevor. Menschen, die etwas älter als 16 sind, wissen, wie Deutschland vor 20, 30 Jahren aussah und was sich alles verbessert hat. Zweitakter und die meisten Kohleheizungen sind verschwunden, die Autos haben Abgasreinigung. In der Ruhr und im Rhein kann man wieder schwimmen. Die Emissionen sind heute um 23 Prozent geringer als 1990. Man darf kritisieren, das sei zu wenig. Aber die Behauptung, es sei nichts geschehen, ist eine glatte Lüge. Ignoranz muss man weder beklatschen noch auszeichnen.“
Die Argumentation ist fehlerhaft.
- Die „Häresie“-Unterstellung ist selbst eine Polemik des Autors. Abweichende Meinungen sind in der Wissenschaft immer erlaubt und müssen gehört und geprüft werden. Dies fand und findet für alle Gegenargumente in der Debatte um den Klimawandel statt. In den Naturwissenschaften gilt anschließend: Die Argumente gehören zur Wissenschaftsgeschichte, nicht zur Naturwissenschaft.
- Natürlich ist die Behauptung “es ist nichts geschehen” falsch. Korrekt ist: Die Maßnahmen sind nicht wirksam. Weltweit steigen die Emissionen, weil die Weltgemeinschaft den Ausbau der treibhausgasneutralen Energiequellen ungefähr um einen Faktor 10 zu langsam betreibt. In Deutschland selbst sanken von 1990 bis 2017 (neueste gesicherte Zahlen) die Treibhausgasemissionen um 27,5 %.
- Wo wir wirklich seit 30 Jahren nichts erreicht haben, ist Energieeinsparung (siehe Endenergieverbrauch in Deutschland). Alle Effizienzgewinne gingen in zusätzlichen Konsum.
- Vor allem aber ist eine Infantilisierung der Wirklichkeit, wenn man nicht zwischen Maßnahmen und wirksamen Maßnahmen unterscheiden kann. Wenn wir wollen, dass unsere Kinder nicht auf 25 % des marinen Menschheitserbes, mit all seinem Potenzial an Medikamenten und Lösungen der Natur, verzichten wollen, wenn wir nicht eine viele 100 Millionen Menschen vertreibende Wetterveränderung und Meeresspiegelanstieg in Kauf nehmen wollen, sollten wir eine Erderwärmung von 1,5 ° nicht überschreiten. Wir sind im Moment aber auf einem Weg zu 3 bis 5 °. Auf einem Weg der ab einem nur grob abschätzbaren Punkt aufgrund selbstverstärkender Prozesse nicht mehr stoppbar ist.
Stellt euch vor, ihr wollt nach New York fliegen. Die Pilotin fliegt los, teilt euch dann aber in der Luft mit, sie habe aus Zeitmangel oder zur Kostenersparnis nur knapp 30 % der nötigen Treibstoffmenge getankt. Das sei aber OK, sie habe ja schließlich nicht gar nichts getan.
Oder etwas drastischer: Ein Vater verteidigt sich, er hätte seinem an Hunger gestorbenen Kind immerhin ein Drittel der nötigen Nahrungsmenge gegeben.
Ich halte das Verhalten von Herrn von Marschall für infantil. Alle Versuche, sich eine postfaktische Welt einzureden, Realitäten zu leugnen und die eigenen Handlungen als nötigen Diskurs und in der Politik nötige Kompromisse schön zu reden, stimmen genau so wenig wie die Rechtfertigungen der Pilotin oder des Vaters.
PS: Menschen, die den nötigen Wandel nicht wahrhaben oder verhindern wollen, reden am liebsten nicht über Klimawandel, Zukunftssorgen und Lösungsvorschläge, sondern über Greta Thunberg. Als sei sie an irgendetwas Schuld. Sie ignorieren, dass Frau Thunberg nur das gleiche sagt wie z. B. der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler, der UN Generalsekretär António Guterres und viele tausend andere renommierte Persönlichkeiten.